FRAGEN UND ANTWORTEN ZUM „STECHUHR“-BESCHLUSS DES BAG

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Mit seinem Beschluss vom 13. September 2022 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) anlässlich eines Streits um Rechte des Betriebsrats bei der Arbeitszeiterfassung beiläufig mitgeteilt, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer:innen zu erfassen. Auf eine entsprechende Antwort vom Gesetzgeber hatten viele seit dem sog. Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 vergeblich gewartet. Die Pressemitteilung des BAG hat sogar die Tagespresse merklich in Aufregung versetzt. Wir haben die wichtigsten Fragen beleuchtet.

WAS GESCHAH BISHER?

Bekanntlich hatte der EuGH (14. Mai 2019, C-55/18) entschieden, dass die Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) Mitgliedsstaaten verpflichtet, Arbeitgebern aufzugeben, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem/einer jeden Arbeitnehmer:in geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, um so die tatsächliche Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden sowie der täglichen (11 Stunden) und wöchentlichen (pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden) Mindestruhezeiten sicherzustellen. Die Aufregung war seinerzeit groß. Dann kam Corona sowie die damit zusammenhängenden neuen Arbeitsformen (home office, remote working, etc.) und die Frage nach der richtigen Arbeitszeiterfassung lag auf Eis – leider auch beim Gesetzgeber.

WAS HAT DAS BAG ENTSCHIEDEN?

Im Streit stand die Frage, ob der Betriebsrat kraft seines Mitbestimmungsrechts bei der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen nach § 87 Abs 1. Nr. 6 BetrVG vom Arbeitgeber im Wege eines Initiativrechts verlangen und ggf. über die Einigungsstelle erzwingen kann, ein elektronisches Zeiterfassungssystem einzuführen. Das ist eine seit einer Entscheidung des BAG aus 1989 mit „Nein“ zu beantwortende Frage. Allerdings hatte die Vorinstanz, das LAG Hamm, das anders gesehen und daher musste das BAG entscheiden. Der erste Senat bleibt bei seiner damaligen Linie, jedenfalls im Ergebnis und lehnte das Initiativrecht ab. Das überrascht nicht, denn die Folgen wären nicht absehbar gewesen, hätten Betriebsräte dem Arbeitgeber damit allerlei technische Überwachungseinrichtungen aufzwingen können. Dies wäre ein absurdes Ergebnis gewesen, weil die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG als Abwehrrecht des Betriebsrates vor solchen Einrichtungen gedacht ist. Immerhin das bleibt den Arbeitgebern also erspart.

WAS IST ÜBERRASCHEND AN DER ENTSCHEIDUNG?

Es hätte gereicht zu sagen, dass es bei der Linie des BAG bleibt und es kein Initiativrecht des Betriebsrats für technische Überwachungseinrichtungen gibt. Damit hat sich der erste Senat aber nicht zu begnügt, sondern stellt fest, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) in unionsrechtskonformer Auslegung verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer:innen zu erfassen. Für den Rechtsstreit bedeutet das, dass der Betriebsrat schon deshalb kein Initiativrecht für eine Arbeitszeiterfassung hat, weil der Arbeitgeber dazu gesetzlich verpflichtet ist. Beim „ob“ der Arbeitszeiterfassung hat der Betriebsrat somit schon wegen der gesetzlichen Regelung nicht mitzubestimmen. Damit knüpft das Gericht an die damalige Entscheidung des EuGH an, die über § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG – vereinfacht ausgedrückt – jetzt unmittelbare Geltung beansprucht. Auf diese Idee kam, soweit ersichtlich, jedenfalls kein Arbeitsgericht und das lässt sich dann wohl als Überraschung auffassen.

HAT DER BETRIEBSRAT BEI DER ARBEITSZEITERFASSUNG DANN NOCH MITBESTIMMUNGSRECHTE?

Ja. So ganz ohne Mitbestimmungsrechte steht der Betriebsrat nicht da. Festgestellt hat das BAG nur, dass der Betriebsrat kein Initiativrecht für die Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung hat, weil ein solches nur dann bestehen kann, wenn die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist. Dies ist mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG aber offensichtlich der Fall ist. Trotz der gesetzlich verankerten Verpflichtung zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems, kann der Beschluss des BAG nicht so verstanden werden, dass der Betriebsrat bei der konkreten Ausgestaltung der technischen Einrichtung zur Arbeitszeiterfassung kein Mitbestimmungsrecht hat, da ansonsten das Mitbestimmungsrecht, zumindest bei technischen Einrichtungen zur Arbeitszeiterfassung, gegenstandslos würde. Bei einer Erfassung auf nicht-elektronischem Wege trifft dies wiederrum nicht zu. Das Mitbestimmungsrecht könnte hier jedoch aus einem anderen Grund bestehen, etwa wegen Regelung des Gesundheitsschutzes im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG).

WELCHE ROLLE SPIELT DER BESCHLUSS DES BAG?

Der Satz, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmer:innen geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann, hat es in sich. Damit sind nämlich alle Systeme, in denen die Arbeitszeit nicht gemessen wird, erst einmal nicht mehr im Einklang mit der Rechtslage. Und damit wackelt die Vertrauensarbeitszeit. Weiter eröffnet der Beschluss die Tür dafür, die Verletzung der Arbeitszeiterfassungspflicht mit Bußgeldern zu sanktionieren. Der Satz ist für Arbeitgeber daher brisant. Gleichwohl ist Panik erst einmal nicht angezeigt, zumal die Entscheidungsgründe noch nicht vorliegen.

An der Arbeitszeiterfassung führt aber wohl kein Weg mehr vorbei. Wie genau diese ausgestaltet werden kann, müssen Arbeitgeber unter Berücksichtigung ihrer konkreten Tätigkeitsbereiche eruieren. Der Arbeitgeber sollte den Betriebsrat bei der Einführung und Ausgestaltung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung beteiligen. Nimmt man an, dass alle Arbeitgeber ohne ein Zeiterfassungssystem nun automatisch gegen ihre Grundpflichten aus dem Arbeitsschutzgesetz verstoßen, könnte der Betriebsrat den eigenen Arbeitgeber der Arbeitsschutzbehörde melden, § 89 BetrVG weist dem Betriebsrat dafür ein Mandat zu. Mit dem Betriebsrat sollte die Situation daher besprochen werden.

MUSS DER GESETZGEBER TÄTIG WERDEN?

Dringend. Das war nach der Entscheidung des EuGH der Plan, aber Versuche, die Zeiterfassung im Rahmen des Arbeitszeitgesetz zu regeln, sind im Gesetzgebungsverfahren steckengeblieben. Da das BAG erkannt hat, dass die bisherige Rechtslage bereits eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung vorsieht, ist zu befürchten, dass legislatorische Anstrengungen, die heillos veralteten Regelungen des Arbeitszeitgesetzes an die Wirklichkeit anzupassen, halbherzig aufgenommen werden und dann irgendwann versiegen. Das wäre der denkbar schlechteste Ausgang. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat inzwischen angekündigt eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes zu prüfen. Es kann bei einer Änderung nicht nur darum gehen, den Widerspruch zwischen § 16 Abs. 2 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) und § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG zu lösen (nach § 16 Abs. 2 ArbZG ist der Arbeitgeber nur verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer:innen, nicht jedoch sämtlich geleistete Arbeitsstunden aufzuzeichnen), sondern darum, diejenigen Arbeitszeitmodelle zu retten, die jetzt schon Wirklichkeit sind und einer Vielzahl von Arbeitnehmer:innen genau das ermöglichen, was jahrelang gefordert war – nämlich Flexibilität.  Kommt es hier nicht schnell zu einer Revision des Arbeitszeitrechts, droht die moderne Arbeitswelt, die längst Realität ist, in die Steinzeit der Stechuhr abzustürzen. Im Koalitionsvertrag war man sich jedenfalls einig, dass dies nicht passieren dürfe.

Letztlich ist hier vieles möglich. Da der EuGH ein objektives, verlässliches und zugängliches System verlangt, schließt dies dem Wortlaut nach, die Erfassung durch die Arbeitnehmer:innen selbst erst einmal aus. Dies wird bei bestimmten Arbeitsplätzen und -formen aber wohl kaum anders möglich sein. Auch die Vertrauensarbeitszeit lässt sich auf Ausnahmen in der Arbeitszeitrichtline stützen (Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG). Daran hat sich mit dem Beschluss des BAG nichts geändert. Um die Vertrauensarbeitszeit zu retten, müsste der Gesetzgeber gleichwohl nicht nur das Arbeitszeitgesetz, sondern auch das Arbeitsschutzgesetz ändern und entsprechende Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassung, wie sie bereits für leitende Angestellte aufgrund der Richtlinie möglich sind, gesetzlich verankern. Dies wird in Anbetracht der unionsrechtlichen Vorgaben auch gelingen, wenn garantiert ist, dass die Ausnahme nicht zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen wird.

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