Mindestens 15% - Landgericht Dortmund schätzt kartellbedingten Preisaufschlag

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Das Landgericht Dortmund macht mit Urteil vom 30.09.2020 (8 O 115/14 (Kart)) von der Möglichkeit Gebrauch, die Schadenshöhe in Kartellschadensersatzfällen zu schätzen – ohne ein eigenes Gutachten einzuholen. Den Mindestschaden schätzt das Gericht im dortigen Fall auf 15%. Wie es dazu kam und ob die Entscheidung Schule machen könnte, lesen Sie hier.

Die Entscheidung erging im Komplex um das sogenannte Schienenkartell. Im Streit um den Bezug kartellierter Gleisoberbaumaterialien verlangte eine Kommune Schadensersatz von Beteiligten des Kartells. Die Entscheidung ist jedoch über das Schienenkartell hinaus bedeutsam: Das Landgericht Dortmund schätzt den kartellbedingten Schaden der Höhe nach selbst, ohne ein Gerichtsgutachten in Auftrag zu geben.

Was ist eine Schadensschätzung?

Dass das Gericht den Schaden schätzen darf, ist zunächst nicht weiter erstaunlich. Die Möglichkeit zur Schätzung eines Schadens ist in § 287 ZPO vorgesehen: "Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch […] sich der Schaden belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung." Dies gilt nach § 287 Abs. 2 ZPO ebenfalls, soweit eine Forderung dem Grunde nach feststeht: "Die Vorschriften des Absatzes 1 Satz 1, 2 sind […] entsprechend anzuwenden, soweit unter den Parteien die Höhe einer Forderung streitig ist und die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die zu der Bedeutung des streitigen Teiles der Forderung in keinem Verhältnis stehen." Mithilfe der Norm sollen materiell Schadensersatzberechtigte ihren Anspruch auch quantifizierbar durchsetzen können – sprich nicht kurz vor dem Ziel an prozessualen Herausforderungen der Darlegungs- und Beweislast scheitern.

Wie funktioniert eine Schätzung für gewöhnlich?

Sofern deutsche Kartellschadensersatzprozesse überhaupt ein Stadium erreichen, in dem es um die konkrete Schadenshöhe geht, kommt es für gewöhnlich zu einem Sachverständigengefecht. Dabei liefern die Parteien ihre eigenen Parteigutachten. Zudem wird – so jedenfalls die Erwartungshaltung – das Gericht einen eigenen ökonomischen Sachverständigen beauftragen. Die Sachverständigen nähern sich dann mittels verschiedener Methoden einer näherungsweisen Schätzung des hypothetischen, kartellbereinigten Preises. Die Differenz zum tatsächlichen Preis bildet die Basis für einen möglichen Schaden des Klägers.
Folgende exemplarische Methoden werden dabei regelmäßig herangezogen:

  • die Vergleichsmarktbetrachtung (Preisentwicklung auf zeitlich, sachlich oder räumlich benachbarten Märkten oder auf dem kartellbefangenen Markt in kartellfreier Zeit),
  • der kostenbasierte Vergleich zur Bestimmung des Kartellschadens (Betrachtung der Preiskalkulation) oder
  • eine marktinterne Vergleichsanalyse (Heranziehung der Daten von Kartellaußenseitern)
Warum schätzte das Landgericht Dortmund selbst?

Das Landgericht Dortmund ist bekannt für seine mutigen und pointierten Entscheidungen im Bereich Kartellschadensersatz. So beschritt man auch hier einen innovativen Weg:
Das Gericht meinte, dass die herkömmlichen Methoden aufgrund der Besonderheiten des Sachverhalts nicht anwendbar seien. Beispielsweise sei kein sicherer zeitlicher und räumlicher Vergleichsmarkt vorhanden, auf dem das Kartell nicht gewirkt habe.

Das Gericht sah außerdem die Kosten eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens als im Verhältnis zum im Raum stehenden Schaden als zu hoch an: Die zugesprochene Schadenssumme belief sich letztlich auf ca. 62.000 EUR. Das eröffnete den Weg zu § 287 Abs. 2 ZPO, da nach Auffassung des Gerichts der mit der Einholung der Gutachten "verbundene Aufwand und die Kosten angesichts der Höhe der nach den diversen Erledigungserklärungen überhaupt noch rechtshängigen Forderung erkennbar außer Verhältnis zur Bedeutung des noch streitigen Teils der Forderung steht".

Nach Ansicht des Landgerichts Dortmund ist der Tatrichter bei der Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO zudem nicht an Beweisanträge oder an eine oft von den Parteien gewünschte zusätzliche Einholung von Sachverständigengutachten von Amts wegen gebunden, "wenn ihm bereits hinreichende Grundlagen für ein Wahrscheinlichkeitsurteil zur Verfügung stehen". Die für die Schätzung erforderlichen Anknüpfungstatsachen würden sich dabei nach Auffassung des Gerichts regelmäßig bereits dem kartellbehördlichen Bußgeldbescheid entnehmen lassen. Voraussetzung einer Schätzung seien insofern lediglich geeignete und nicht die bestmöglichen Anknüpfungstatsachen.

Das Landgericht Dortmund kritisierte zudem die von den Beklagten im Verfahren vorgelegten Privatgutachten. Diese müssten auch Sonderwissen der Beklagten enthalten, um "vollständig" zu sein und damit der prozessualen Wahrheitspflicht zu entsprechen. Das Landgericht Dortmund führte dazu aus: "Zudem ist nicht ersichtlich, dass diesem Privatgutachten der komplette, bei der beauftragenden Partei vorhandene Daten- und Wissensbestand zugrunde gelegen hätte. Denn die Beklagten verfügten notwendig über das überlegene Wissen der Abspracheinhalte." Ähnlich ließ das Landgericht Dortmund auch anklingen, dass die Beklagten eine zu hohe Schätzung durch eine Offenlegung des tatsächlich realisierten Preisaufschlags verhindern könnten.

Somit nahm das Gericht die Sache selbst in die Hand und machte sich an eine eigene Schadensschätzung.

Wie hat das Landgericht Dortmund die 15% abgeleitet?

Ausgangspunkt der Schätzung war für das Landgericht Dortmund der angenommene Erfahrungssatz, dass ein Kartell nur eingegangen würde, wenn sich die Kartellbeteiligten von der Umsetzung einen wirtschaftlichen Erfolg versprechen würden. Sie würden sodann auch Preissetzungsspielräume gewinnmaximierend nutzen.
Für die konkrete Schätzung griff das Gericht auf Faktoren zurück, die bereits für die Berechnung der Geldbuße von Bedeutung waren, namentlich

  • Dauer des Kartells
  • Marktabdeckung des Kartells
  • Organisationsgrad des Kartells
  • Kartelldisziplin.

Zentral war für Gericht auch der Zeitpunkt der klägerischen Erwerbsvorgänge: Anders als im Fall des BGH in Sachen Schienenkartell I fanden die klägerischen Erwerbsvorgänge im hier entschiedenen Fall etwa in der zeitlichen Mitte des Kartells statt. Das Landgericht Dortmund bezeichnete dies als "fruchtbare Phase" des Kartells. Erwägungen des BGH, wonach es Anfangsschwierigkeiten in der Preissetzung gegeben haben könnte, so dass es noch zu keiner Kartellrendite gekommen sei, griffen daher nach Auffassung des Landgerichts Dortmund hier nicht durch. Die Gesamtschau der Faktoren spreche somit "für einen nicht nur leicht angehobenen Kartellpreis".

Der konkreten Zahl von mindestens 15% näherte sich das Landgericht Dortmund durch einen Rückgriff auf eine in den AGB der Klägerin verankerte Vertragsstrafe von 15% für den Fall kartellierter Erwerbsgüter. Das Landgericht Dortmund schätzte den kartellbedingten Preisaufschlag daher "auf einen Mindestbetrag von 15%". Dieses Ergebnis plausibilisiert das Gericht in der Entscheidung schließlich mit einer Gesamtschau der Mediane bekannter Studien über durchschnittliche kartellbedingte Preisaufschläge einerseits und Entscheidungen anderer europäischer Gerichte andererseits, die ebenfalls im Bereich um die 15% lägen.

Wird die Entscheidung Schule machen?

Das Landgericht Dortmund eröffnet mit seiner Entscheidung den Weg zur eigenhändigen Schadensschätzung der Gerichte. Dreh- und Angelpunkt war dabei jedoch insbesondere auch die Kosten-Nutzen-Abwägung eines Sachverständigengutachtens. Dieses Verhältnis kann deutlich anders ausfallen, wenn – wie häufig in Kartellschadensersatzfällen – höhere Schadenssummen im Raum stehen. Insofern wird der Weg des Landgerichts Dortmunds nicht automatisch in jedem Verfahren zur Verfügung stehen. Doch das Urteil stärkt in der Tendenz die Rechte der Kläger, deren Kostenrisiko zur Eintreibung von Schadensersatzansprüchen in geeigneten Fällen durch die Entscheidung sinken kann. Es bleibt abzuwarten, ob sich weitere Gerichte der Entscheidung anschließen werden.

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