Lebensmitteleinzelhandel und Kartellrecht in der COVID-19-Krise

Latham & Watkins LLP
Contact

Latham & Watkins LLPWie kann der Lebensmitteleinzelhandel in der aktuellen Situation die Versorgungssicherheit kartellrechtskonform gewährleisten? Welche Formen der Zusammenarbeit sind zulässig?

In Deutschland und auf der ganzen Welt verändert sich aufgrund der Ausbreitung von COVID-19 die gesellschaftliche und politische Lage drastisch. Der Sicherung der Versorgung mit Lebensmitteln und Gegenständen des alltäglichen Bedarfs kommt eine besondere Bedeutung zu. Das gilt auch für das Kartellrecht: So haben unter anderem Großbritannien und Norwegen eine Lockerung der kartellrechtlichen Regeln für Kooperationen zwischen Wettbewerbern im Lebensmitteleinzelhandel und der Transportindustrie angekündigt. In Deutschland haben Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und Bundeskartellamtspräsident Andreas Mundt betont, man müsse offen für Ausnahmeregelungen sein.

Im Folgenden fassen wir die derzeitige Situation exemplarisch für aktuell besonders wichtige Formen der Zusammenarbeit von Lebensmitteleinzelhändlern und -herstellern zusammen.

Ausnahmeregelungen in Großbritannien und Norwegen

Die eindeutigste Positionierung kommt derzeit aus Großbritannien: Ein von der britischen Regierung verkündetes Maßnahmenpaket sieht – im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels – Lockerungen von Teilen des Kartellrechts vor. Hiernach dürfen britische Lebensmittelhändler Informationen über Lagerbestände austauschen, gemeinsam Transport- und Lagerkapazitäten nutzen und zusammenarbeiten, um Geschäfte offenzuhalten und Belieferungen sicherzustellen. Um mögliche Engpässe zu überwinden, darf darüber hinaus Personal ausgetauscht werden.[i] Die britische Wettbewerbsbehörde (CMA – „Competition and Markets Authority“) hat angekündigt, dass sie diese Schritte durch die Einsetzung einer COVID-19 Sondereinheit unterstützt. Gleichzeitig will die CMA kartellrechtswidrigen Verhaltensweisen unter dem Deckmantel der gegenwärtigen Krise entgegenwirken.[ii] Das würde z.B. für unzulässige – insbesondere langfristige – Koordinierungen zwischen Wettbewerbern gelten, die nicht zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen erforderlich sind.

Die norwegische Regierung hat in Reaktion auf die aktuelle Krise die Transportindustrie für drei Monate von dem kartellrechtlichen Kooperationsverbot zwischen Wettbewerbern befreit. Dies soll vor allem den angeschlagenen Airlines, wie SAS und Norwegian, eine Zusammenarbeit ermöglichen und den Transport von Gütern sicherstellen.[iii]

Ankündigung flexibler Handhabung in Europa und Deutschland

Angesichts der aktuellen Herausforderungen betont Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gegenüber dem „Spiegel“:

Wenn Lebensmittelindustrie und Einzelhandel kooperieren, um die Versorgung der Bürger in der Krise sicherzustellen, dann werden wir Fragen des Kartellrechts mit den Kartellbehörden aufnehmen und eine Lösung erzielen.[iv]

Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, zeigt sich offen, die derzeitige Situation in der Anwendungspraxis zu berücksichtigen:

Das Kartellrecht erlaubt weitgehende Kooperationen zwischen Unternehmen, wenn es dafür – wie in der aktuellen Situation – gute Gründe gibt. Wir stehen selbstverständlich für jedes Gespräch mit den Unternehmen, Verbänden und der Politik zur Verfügung.[v]

Die europäische Kommission erwägt ebenfalls eine Lockerung der Regeln zum Informationsaustausch unter Wettbewerbern und andere Maßnahmen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Eine abschließende Positionierung steht noch aus. Unternehmen könnten – so heißt es – informell bei der Kommission anfragen, welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit bereits nach geltendem Kartellrecht möglich sind.[vi] Der europäische Händlerverband, EuroCommerce, ruft indes Brüssel dazu auf, Kooperationen von Wettbewerbern freizustellen. Soweit es um die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung und der Lieferketten gehe, bedürfe es einer flexiblen Handhabung der Wettbewerbsvorschriften.[vii] Die Kommission habe EuroCommerce daraufhin um Informationen gebeten, welcher Austausch bei Lebensmitteleinzelhändlern erforderlich sei (etwa zu den Lieferungen und Bestellungen) und welche (informellen) Leitlinien sinnvoll wären.[viii]

Das European Competition Network („ECN“) hat eine gemeinsame Erklärung aller Kartellbehörden in der EU zur Anwendung des Kartellrechts in Zeiten der COVID-19 Krise veröffentlicht.[ix] Es bestehe ein Bedürfnis nach Kooperationen zur Sicherstellung der Versorgung. Gegen „notwendige und vorläufige Maßnahmen“ („necessary and temporary measures“) werde nicht vorgegangen. Wie auch die Kommission weist das ECN auf die Möglichkeit der informellen Konsultation hin. Zugleich betont das ECN, es werde weiterhin eingeschritten, wenn Unternehmen die aktuellen Umstände missbräuchlich ausnutzen. Insbesondere müssten Produkte, die für den Gesundheitsschutz von Verbrauchern essentiell sind, zu wettbewerbsfähigen Preisen angeboten werden.

Anders als in Großbritannien und Norwegen bestehen derzeit noch keine konkreten Ausnahmeregelungen. Für die betroffenen Unternehmen ist in der gegenwärtigen Situation Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung: „Es wäre aber wünschenswert, wenn die Kartellbehörde hier befristet für die Zeit der Krise rechtssichere Handlungsspielräume eröffnen würde“, betont unter anderem der Handelsverband Deutschland (HDE).[x]

Kartellrechtliche Rechtfertigung der Zusammenarbeit zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit

Es sprechen gute Gründe dafür, dass die diskutierten Formen der Zusammenarbeit in der gegenwärtigen Situation nach europäischem und deutschem Kartellrecht gerechtfertigt wären:

  • Austausch von Informationen über Lagerbestände oder Produktionskapazitäten: Mit Blick auf die derzeitigen Herausforderungen bestehen sehr gute Gründe dafür, dass ein Austausch über Lagerbestände und Produktionskapazitäten (LEH-Anbieter untereinander und/oder mit Herstellern) kartellrechtlich zulässig ist. Das gilt, soweit der Austausch befristet erfolgt und zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit erforderlich ist, um Engpässe frühzeitig zu erkennen und (gemeinsam) zu adressieren. Wettbewerbsbeschränkende Wirkungen eines solchen Austauschs wären von der Anwendung des Kartellverbots freigestellt, weil der Austausch notwendig ist, um die Versorgungssicherheit im Interesse der Verbraucher sicherzustellen. Voraussetzung für eine solche Freistellung ist, dass mit der befristeten Zusammenarbeit keine langfristige Koordinierung unter Wettbewerbern einhergeht, die über die gegenwärtige Krise hinausgehen würde.
  • Gemeinsamer Transport und Lagerung: Eine Zusammenarbeit in diesen Bereichen kann effizienzfördernd sein, was in der aktuellen Situation einer höheren Nachfrage und gleichzeitig reduzierter Transportkapazitäten besonders wichtig ist. Zudem spricht auch hier die Gewährleistung der Versorgungssicherheit für eine Freistellung vom Kartellverbot bei befristeten Maßnahmen.
  • Austausch von Personal: Sofern LEH-Unternehmen untereinander den Austausch von Personal erwägen, um Verkaufsstellen offen zu halten (oder die fortlaufende Produktion zu gewährleisten), fehlt es überwiegend wohl schon an einer Wettbewerbsbeschränkung. In aller Regel wären hiervon Mitarbeiter betroffen (z.B. Ladenpersonal, Produktionspersonal), die keine Berührungspunkte mit wettbewerblich relevanten Themen haben.

Zusammenfassung und Empfehlung

Das Kartellrecht bietet demnach in der aktuellen Situation bereits Spielräume für eine Kooperation von Wettbewerbern zur Sicherung der Lebensmittelversorgung. Darüber hinaus wären konkrete Leitlinien der Europäischen Kommission und des Bundeskartellamts wünschenswert. Nur so kann für die betroffenen Unternehmen – und damit letztlich für die Verbraucher – die erforderliche Rechtssicherheit in diesen ungewissen Zeiten hergestellt werden.

Auf europäischer und deutscher Ebene fehlt es bislang an konkreten Vorgaben für eine „Lockerung“ des Kartellrechts. Das europäische und deutsche Kartellrecht bleibt – bis auf Weiteres – uneingeschränkt anwendbar. Auf jeden Fall bestehen sehr gute Argumente, dass wichtige Formen der (befristeten) Zusammenarbeit zur Bewältigung der aktuellen Situation kartellrechtlich zulässig sind. Mangels konkreter Leitlinien bleibt die Einzelfallbewertung – einschließlich einer Konsultation mit dem Bundeskartellamt oder der Europäischen Kommission – unerlässlich. Die Europäische Kommission und das Bundeskartellamt haben insoweit bereits Gesprächsbereitschaft signalisiert und die Möglichkeit flexibler Lösungen in Aussicht gestellt.

[i]      GOV.UK: Pressemitteilung vom 19. März 2020.

[ii]     Competition & Markets Authority, GOV.UK, Pressemitteilung vom 20. März 2020.

[iii]    Norwegische Kartellbehörde, Pressemitteilung vom 19. März 2020

[iv]    Der Spiegel: „Die Nadelöhre der Lebensmittelversorgung“ vom 20. März 2020.

[v]     Lebensmittel Zeitung: „Kartellamt offen für Ausnahmeregelungen“ vom 20. März 2020.

[vi]    MLex Mitteilung vom 19. März 2020.

[vii]    EuroCommerce, Stellungnahme vom 16. März 2020.

[viii]   MLex Mitteilung vom 19. März 2020.

[ix]    ECN Gemeinsame Stellungnahme vom 23. März 2020.

[x]     Lebensmittel Zeitung: „Kartellamt offen für Ausnahmeregelungen“ vom 20. März 2020.

DISCLAIMER: Because of the generality of this update, the information provided herein may not be applicable in all situations and should not be acted upon without specific legal advice based on particular situations.

© Latham & Watkins LLP | Attorney Advertising

Written by:

Latham & Watkins LLP
Contact
more
less

PUBLISH YOUR CONTENT ON JD SUPRA NOW

  • Increased visibility
  • Actionable analytics
  • Ongoing guidance

Latham & Watkins LLP on:

Reporters on Deadline

"My best business intelligence, in one easy email…"

Your first step to building a free, personalized, morning email brief covering pertinent authors and topics on JD Supra:
*By using the service, you signify your acceptance of JD Supra's Privacy Policy.
Custom Email Digest
- hide
- hide